Raus aus dem Schwarz

-Br. Markus- Lukas 18, 35-43

Wir wissen nicht, wie das ist – einen Vogel singen hören, ihn aber nicht zu sehen. Schritte auf der Treppe, aber da ist keiner – oder doch? Die warmen Strahlen der Sonne spüren, ohne zu wissen, wie sie aussieht – ganz in schwarz. Wenn alles dunkel ist, Nacht, finster, nicht nur für den Augenblick, ein paar Stunden oder Tage, sondern Jahre – lebenslängliche Finsternis. Wir wissen nicht, wie das ist, nichts zu sehen, blind zu sein, ausgegrenzt aus der bunten Welt der Farben, der hellen, frohen Welt. Leben ohne Augenlicht – was für ein Schwarz muss das sein, wenn du merkst, dass da was ist, was alle, nur ausgerechnet ich nicht, sehen kann. Leben im Schatten – ausgerechnet ich! Wieso ich nicht, aber alle anderen?

Was für ein Leben das ist, wissen wir nicht. Der blinde Bartimäus ist einer, dem seine Krankheit nicht gefällt, der herauswill aus den Schatten der Nacht. Er will das Selbstverständlichste von der Welt: Er will Licht, sehen können.

1. Die Schreihals-Liturgie

Die vorne an gingen, fuhren ihn an, er sollte schweigen. Er aber schrie noch viel mehr „Du Sohn Davids, erbarme dich meiner.“

Es ist nicht irgendeine ganz normale Wanderung. Jesus und die Jünger sind unterwegs auf der Höhe von Jericho. Die großen Theologen sind sich nicht ganz einig, wie man sich das vorzustellen hat. Die einen sagen, es sei ein Schweigemarsch gewesen, ein kontemplatives Wandern, zu inneren Einkehr bestimmt. Die anderen reden von einer Art „Wandergottesdienst“, wo während des Wanderns unterrichtet wurde. Fest steht, dass Unterbrechungen hier nicht vorgesehen sind.

Der Blinde platzt also voll in eine geordnete geistliche Veranstaltung und schert sich einen Dreck um das, was der äußere Rahmen ist. Er ist ein Störenfried inmitten der nach geistlicher Erbauung suchenden Wandergruppe. Was würden wir denn sagen, wenn hier, heute morgen, mitten im Gottesdienst, plötzlich einer zu schreien anfängt und seine ganz privaten Gesundheitsprobleme zum Mittelpunkt macht – geht irgendwie gar nicht – oder? Er hätte sich vorneweg anmelden sollen, dass alle für ihn beten können, in aller Ruhe, versteht sich – oder nicht?

Zur Zeit des Textes wird Krankheit als Strafe Gottes gesehen, der Kranke selbst demzufolge nicht nur an der Krankheit leidend, sondern auch an den stummen, vorwurfsvollen Blicken der anderen. „Wie schlimm muss der wohl gesündigt haben, dass Gott ihn so blind hat werden lassen!“ Kein Witz, leider eine Sichtweise, die man selbst heute noch, selbst in sehr modern scheinenden Kreisen finden kann. Was Krankheit ist, ist schon immer eine große Frage. Wenn Gott mein Vater ist, könnte er ja auch die Schmerzen im Vorfeld beseitigen, sie gar nicht erst aufkommen lassen. Schon klar, dass Gott das Heil will und dass jede Krankheit eine leichtere Form des Todes ist. Ich war schon immer lieber reich und gesund als arm und krank. Klar ist, dass jede Krankheit eine Krise ist, nicht der Normalzustand, nicht der Zustand, der uns gefällt.

Gott hat dem Menschen das Augenlicht geschenkt, um zu sehen, wie schön die Erde ist. Hätte er alles in Schwarz gewollt, hätte er Schwarz erschaffen, die Sonne niemals aufgehen lassen. Ich verstehe den blinden Mann, dass er schreit, weil Nichts Sehen einfach schrecklich ist. Er schreit, weil er die Not und das Elend sieht und weiß, dass er selbst es nicht ändern kann. Er wartet nicht auf Hilfe, er schreit um Hilfe. Er findet sich nicht damit ab, dass man ja doch nichts ändern kann und bisher alles umsonst war. Er glaubt noch daran, dass man es ändern kann, das schlimme Schicksal, das ihn zu dem gemacht hat, was er ist, einem einsamen Mann in Schwarz, der nichts sehen kann, damit aber nicht zufrieden ist.

Es ist der Schrei seines Lebens, der

2. Gottes Aufmerksamkeit

erregt

Jesus aber blieb stehen und befahl, ihn zu sich zu führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“

Anders als die Jünger reagiert Christus. Er sagt nicht: „Wir befinden uns gerade auf einem heiligen Weg und haben keine Diakoniesprechstunde.“ sondern: „Was willst du?“ Was für eine Frage! So schlicht und einfach wie in der Metzgerei: „Was darf’s denn heute sein?“

Christus hält inne, um den Lauf der Geschicke zugunsten eines Störenfrieds zu ändern. Gott öffnet das Ohr, um auf vielfachen Wunsch eines Einzelnen am Rad der Geschichte zu drehen. Das ist ganz ohne Frage die größte Unverschämtheit des Glaubens, dass der Lenker der Geschicke bereit ist, auf so ganz kleine Leute zu hören, sich ins Lenkrad greifen zu lassen – so verrückt, wie es klingt.

Das ändert alles – den Augenblick und die Welt. Gottes Achtsamkeit gilt uns. Der Riese hat ein Herz für den Zwerg. Der Glaube öffnet das Ohr Gottes. Gott sieht den Menschen eben nicht als ferngesteuerte Marionette, sondern als Beifahrer und Lenkhilfe auf den Straßen der Welt. Nicht das gleichmütige Ertragen, sondern das Mitgestalten, das Mitformen und Mitentwerfen ist die Idee.

„Was willst Du?“ Das ist ein zeitloses Angebot Gottes an alle Glaubenden. Gott hört sich alles an. Christus öffnet sich für den Mann in der Finsternis, weil der mehr sieht als manch ein Sehender. Er öffnet sich für den Blinden, weil der etwas sieht, was manch einer übersieht, selbst heue nicht sehen kann. Der blinde Mann sieht mehr, als die anderen, er sieht, dass Gott mehr kann als alle anderen. Er sieht, dass da einer ist, der mehr kann, als sämtliche Medizinmänner und -frauen aller Zeiten. Er sieht eine Chance, die größer ist als alle Anstrengungen, die er selber unternehmen kann. Er sieht, dass es medizinische Lösungen gibt, die über den schulmedizinischen Erfolg hinausreichen. Er sieht eine Möglichkeit, die größer ist als halbesotherische Schwingungstherapien oder fragwürdige Frequenzstimulationen. Er denkt sich nicht positiv, er glaubt, er glaubt an Heilung auf göttliche Art. Er sieht in Christus Gottes Kraft zu helfen. Wie das ist oder sein wird, kann er nicht wissen. Er vertraut sich ohne Vorgaben Gott an. Er legt nicht fest oder probiert aus, er glaubt.

Der Glaube macht ihn auch nicht gesund. Der Glaube ist nur die Grundlage, auf der Gott wirken kann. Würde der Glaube uns heilen, wäre der Glaube nichts anderes als eine Selbsttäuschung. Es ist nicht direkt ein Übersetzungsfehler in der Elberfelder Bibel, schon aber im Verständnis. Nicht der Glaube heilt, sondern Christus. Das wirkt sich in der Praxis der Heilungsgottesdienste aus, sonst würden alle, die nicht geheilt werden, nicht richtig glauben, alle unerhörten Gebete lägen dann an mangelndem Glauben – und das wäre dann ziemlich religiöser Bockmist, schätze ich. Wunder geschehen auch ohne meinen Glauben, sind immer schon unabhängig davon gewesen, ob ich es nachvollziehen kann oder nicht.

Es ist Gottes Kraft allein, die

3. Befreit

Und Jesus sprach zu ihm: „Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen.“

„Sei sehend.“ So einfach kann moderne Medizin sein. Christus begibt sich damit aber nicht in Konkurrenz zu Spezialkliniken oder Operationsbesteck. Gerade da, wo die Kunst des Arztes endet, fängt seine erst an, die aber niemals zu einer  neuen Art von sanfter Medizin werden will. Überall, wo man das versucht, führt es zu entsprechend peinlichen Entgleisungen.

Ich persönlich bin tief dankbar, dass es in Kirchheim mein Kontaktlinsen-Studio gibt, zu dem ich gehen kann, wenn die Sehkraft nachlässt. Da kümmert man sich, ja gibt sich richtig Mühe, mir zu helfen. Schon eine ganz kleine, computergefertigte Linse wirkt Wunder auf ganz normale Art.

Es nützt weder dem Glaubenden noch Gott oder der Kirche, wenn wir die Mühe des Arztes belächeln oder herabwürdigen. Ich finde es in jeder Weise sogar unanständig, wenn mit religiöser Überheblichkeit die Leistung eines Arztes niedergemacht wird – gerade dann, wenn er eben nicht helfen kann. Kein einziges Heilungswunder der Bibel hat das Ziel, den Ärzten die Kundschaft zu rauben oder Ärzte abzuqualifizieren. Es ist einfach nur peinlich, wenn der große Charismatiker heimlich zum Zahnarzt gehen muss.

Christus befreit – nicht das eigene Wunschdenken oder das gemeinsame Ritual. Christus befreit. Er öffnet den weiten Horizont Gottes, tut ungeahnte neue Türen auf, lässt Licht ins verdunkelte Dasein fließen. Es geht bei Weitem nicht nur um das verlorene Augenlicht. Christus öffnet den unendlichen Spielraum Gottes für jeden, der das glaubt. Das ist kein Spielzeug für religiöse Events, sondern der Schraubenschlüssel Gottes, um mit am Rad der Geschichte zu drehen – nicht nur so, zum Ausprobieren oder zum Spaß, sondern genau dann, wenn die Welt schwarz geworden ist, unerträglich finster, einfach nur schattig und kalt, wenn gar keine andere Chance bleibt.

Wenn keiner uns mehr helfen kann, gilt es den Schrei nach mehr auszustoßen. Das „Erbarme dich unser“ kann nur dann Gottes Ohr finden, wenn es von der Ernsthaftigkeit unseres Lebens getragen ist wie von der Bereitschaft, Gottes Entscheidung zu akzeptieren. Unser Glaube soll alles erwarten, aber nichts zwingen. Christus macht unsere Nacht zur Chefsache, zur Angelegenheit, um die er sich kümmert. Es ist immer jemand da, der hilft, am Rad zu drehen,

egal, was unseren Horizont verdunkelt,

egal, was uns den Schlaf raubt,

egal, was nervös macht,

egal, was Magenkrämpfe verursacht

egal, was stresst

egal, was müde macht

egal, was auszehrt und Angst macht

Schrei es einfach raus in die Nacht. In Christus ist die heile Welt angebrochen in unserem heillosen Durcheinander. Das löst das Durcheinander nicht auf, öffnet aber das Blickfeld, bringt Licht in die Nacht.

Christus hilft raus, raus aus dem Schwarz. Amen.

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