Br. Markus | Matth. 9, 9-13 | Predigt am 05.02.2023
Der Hohe Urach ist eine alte Ritterburg, wenige Kilometer von hier entfernt. Er bietet faszinierende Aussicht, hinaus ins weite Land. Selbst als Ruine ist das noch ein Vorteil, den keiner ihm nehmen kann. Auf der Zinne der Burg entsteht ein Gefühl von Erhabenheit, Weite, Freiheit und Sicherheit. Auch wenn ich hier bis maximal bis Metzingen blicken kann, habe ich den Eindruck, alles zu überblicken. Unbedeutend und klein ziehen Lastwagen und Autos unten im Tal ihre Bahn. Es könnte mein Lieblingsplatz sein, wenn da nicht der Hohe Neuffen wäre, bei dem man sogar bis Stuttgart gucken kann – oder der Reußenstein, eher schnuggelig und charmant.
Der Lieblingsplatz Gottes, der Ort, wo er Platz nimmt, ist eher weniger oben auf der Zinne, auf erhabenen oder bröselnden Mauern, sondern ganz unten, tief im Tal, wo man ihn leicht übersehen kann, auf einer Pennerbank.
1. Ohne Barmherzigkeit läuft nix
Als die Pharisäer das sahen, fragten sie seine Jünger: Weshalb gibt sich euer Lehrer mit solchen Sündern und Betrügern ab?
Christus nimmt Platz, wo ein anständiger Mensch eher Abstand hält. Man muß nicht als Pharisäer geboren sein. Es geht aber auch nicht darum, Christus zum Sonderbeauftragen für Nicht-Seßhafte mit Alkoholproblem zu machen. Gott ist nicht Zeus, zu dem man in den Olymp steigen muß. Er nimmt Platz im wahrsten Sinne des Wortes unter uns.
Unsere christliche Auffassung über Barmherzigkeit ist von einem Höhenunterschied geprägt, ein Höherer neigt sich herab, ein Vermögender gibt dem Unvermögenden. Das stellt die Sache aber nur unvollkommen dar. Es geht nicht um eine Almosengebermentalität, sondern um eine Begegnung exakt auf der gleichen Ebene.
Unter uns – Gott setzt sich in Christus an meine Seite. Er nimmt Anteil an mir. Er will mich nicht bemitleiden oder abspeisen.
Es geht um echte Hörbereitschaft auf einer Ebene. Christus setzt sich neben jeden, der ihn Platz nehmen läßt. Christus hört sich das an, was der Grund war, warum es mal wieder nicht geklappt hat, schon wieder daneben geht oder überhaupt zum Scheitern verurteilt ist. Er ist nicht der neunmalkluge Ratgeber, wie man seine Probleme besser handelt. Der rufende Christus ist zugleich der, der Anteil an meinem Scheitern nimmt. Es geht nicht darum, ein Arme-Sünder-Feeling zu vermitteln, das eher einengt als befreit. Es geht nicht darum, mich zum Deppen der Nation zu machen – nach dem Motto: je sündiger, umso besser.
Christus unter uns wertet das Selbstwertgefühl nicht ab, sondern auf, weil er mich erträgt. Nur in dieser Aufwertung kann ich mich akzeptieren als der, der ich bin.
Es geht nicht um religiöse Mitmenschlichkeit. Es geht nicht um psychologische Tricks. Es geht um das Ende der Angst um mich selbst, das Ende der Verachtung. Indem Christus sich neben mich setzt, kann ich aufhören, Angst davor zu haben, ob das gut ausgeht. In seiner Gegenwart allein entsteht der Raum, in dem Friede, Freude, Liebe, Geduld und Freundlichkeit überhaupt erst möglich werden. Indem Christus Platz nimmt, beendet er meinen Irrtum, daß es Menschen gibt, die mehr oder weniger Wert wären als ich.
2. Weil das sein Lieblingsplatz ist
Die Gesunden brauchen keinen Arzt, sondern die Kranken.
Die Sünder – nicht die Gerechten. Gottes Lieblingsplatz ist unter denen, die vor ihm davonlaufen. Es geht um die Bewußtseinsfrage. „Mit diesem „Meaculpa“ kann ich überhaupt nichts anfangen“ sagte mir Hubert, ein älterer Herr, der an seinem gescheiterten Leben dem katholischen Internat die Schuld gibt. Dieses ständige Beichten-Müssen und die künstliche Zerknirschung hätten ihm vom Glauben weggebracht. So ein schlechter Kerl sei er ja gar nicht, wie die ihn glauben machen wollten. Klar, ein paar Ausrutscher passieren jedem, aber im Grunde sind wir alle doch eigentlich göttlich – oder nicht?
Für viele Menschen fühlt es sich so an, als wolle die Kirche ihnen ein schlechtes Gewissen einreden. Man muß zugeben, daß das leider auch passiert. Gerade da, wo der plumpe Moralismus über die barmherzige Zuwendung Gottes gestellt wird, speziell nach dem Motto: Paß auf, kleine Hand, was du tust. Der plumpe religiöse Moralismus verstellt die Sicht auf den erlösenden Christus. Wer sich selbst für gut genug hält, schrammt an Gott vorbei.
Wer bin ich wirklich? Bin ich der feine Kerl oder das arme Mädchen, arm aber rechtschaffen, bin ich der Sünder oder der, der sich für gut genug hält? Das ist die entscheidende Frage. Nicht, wo Christus sich hinsetzt, sondern ob ich ihn Platz nehmen lasse. Beim Auto ist die Sache einfach: Der TÜV entscheidet, was gut ist und was nicht. Gott läßt uns diese Entscheidung selber fällen – ob ich einer bin, der sowieso gut genug ist, oder ein Sünder. Gott läßt mich entscheiden, wo ich mich hinsetze.
Christus hilft mir, beim Blick in den Spiegel die rosa Brille auszuziehen und mich genau so anzuschauen, wie ich wirklich bin, mein wahres Selbst zu erkennen, ungeschminkt. Das befreit ungemein – selbst dann, wenn ich voll bester Absicht genau das Falsche gemacht hab. Genau dann fängt die Barmherzigkeit Gottes an, mich brauchbar zu machen für große Aufgaben. Christus ist neben mir aktiv. Darum
3. Ruft er raus aus dem Schneckenhaus
Ich bin gekommen, um Sünder in die Gemeinschaft mit Gott zu rufen und nicht solche, die sich sowieso für gut genug halten.
Komm, folge mir nach. Matthäus – vom Kommerzschwein zum Priester, ja zum Autor des ersten Evangeliums. Selbst kritische Theologen sind sich zu 90 % sicher: Die Berufungsgeschichte des Zöllners ist seine eigene. Der Verfasser des Matthäusevangeliums war also ein Entwerteter, ein Verachteter, ein Zöllner. Sozialprestige einer Hure oder eines Spielsüchtigen – sooo einer wird gerufen, das Vermächtnis von Christus zu Papier zu bringen, das Neue Testament. Matthäus war aber nicht nur ein Entwerteter, sondern durchaus ein sehr gut verdienender Manager, wenn auch mit fragwürdigen Methoden.
Der Ruf, aus der Zollbude auszusteigen, war für ihn der Ruf heraus aus der finanziellen Sicherheit. Zöllner in der Zeit waren zwar verhaßt, aber sozusagen Outsider mit Politikergehalt. Diese verrückte Berufung nehmen ja manche Atheisten zum Anlaß, die Berichterstattung über die Auferstehung in Frage zu stellen. Sie unterstellen: Wer am Zoll betrogen hat, betrügt auch bei der Geschichtsschreibung. Christus ruft einen schrägen Vogel – nicht den Engel des Lichtes und auch nicht den kühnen Krieger, sondern einen von der Pennerbank hinten links.
Und nicht nur den. Der gesamte Kreis der Jünger besteht nicht aus Helden, sondern aus Menschen, die sich nicht für gut genug halten, im Auge Gottes zu bestehen. Der Ruf zum Priester in der christlichen Kirche geht an Menschen mit diesem Bewußtsein.
Der Theologe Voigt sagt: „Es kann befreiend sein, wenn beide, Pfarrer und Gemeinde wissen: Jesus treibt seine Sache mit lauter Sündern, die er sich vom Zoll holt.“
Ich persönlich glaube ja nicht, daß der Theologe Voigt jemals über die holländische Grenze gegangen ist, sonst hätte er vielleicht doch ein bißchen vorsichtiger formuliert. Das Prinzip aber bleibt: Christus betreibt seine Kirche mit Menschen, die vor Gott unmöglich sind.
Ich zitiere noch einmal den Theologen Voigt: „Unsere Gerechtigkeit ist keine solche, die man aus sich selbst gewinnt, sondern eine, die auf Schritt und Tritt aus Gnade lebt.‘“
Wer ich wirklich bin, ist dann das, was Christus aus mir macht. Wer ich wirklich bin, das läßt sich dann nicht in irgendeine Schublade pressen, sondern liegt in den Händen dessen, der vorangeht.
Wir können nicht seriös versprechen, daß ein Leben in der Nachfolge zwangsläufig auf einer Blumenwiese endet inmitten von Schmetterlingen – sonst hätten Bonhoeffer & Co. ja was falsch gemacht.
Was aber sicher ist: daß Christus direkt neben mir sitzt, auch wenn ich ihn nicht fühlen oder sehen kann, und selbst dann, wenn es ganz tief unten ist, ruft er mich und spricht mich an, direkt auf der Pennerbank. Amen.