Predigt vom 15.09.2024
Psalm 16,5-11
Du, Herr, bist alles, was ich habe; du gibst mir alles, was ich brauche. In deiner Hand liegt meine Zukunft.
Was du mir gibst, ist gut. Was du mir zuteilst, gefällt mir.
Ich preise den Herrn, denn er hilft mir, gute Entscheidungen zu treffen. Tag und Nacht sind meine Gedanken bei ihm.
Ich sehe immer auf den Herrn. Er steht mir zur Seite, damit ich nicht falle.
Darüber freue ich mich so sehr, dass ich es nicht für mich behalten kann. Bei dir, Herr, bin ich in Sicherheit.
Denn du wirst mich nicht dem Tod und der Verwesung überlassen, ich gehöre ja zu dir.
Du zeigst mir den Weg, der zum Leben führt. Du beschenkst mich mit Freude, denn du bist bei mir. Ich kann mein Glück nicht fassen, nie hört es auf.
Sehen lernen
„Hend Sie koine Kalanchoe?“ – „Doch“ sag, ich, „die stehen direkt vor Ihnen.“
Wie kann sowas passieren, daß man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht? Mit Brille wär das nicht passiert.
Mal ist es die Fülle, mal die schlechte Beleuchtung oder die falsche Erwartung, die verhindert, daß wir das Offensichtliche wahrnehmen können.
Peinlich, besonders dann, wenn man ein ganzes Leben auf ein schwarzes Loch zulebt, weil man es nicht sehen kann, das Leben, das da erst anfängt, wenn die Zeit verweht ist, die uns ganz persönlich und jedem Einzelnen gegeben ist.
Es ist
1.Ein majestätischer Augenblick
in dem David erkennt, daß
2.Das Ende der Anfang ist
mit dem
3. Auge, das mehr sieht.
1. Majestätischer Augenblick
„Erleuchtung“ nennen es die Buddhisten, wenn man plötzlich Dinge sieht, die man jahrelang übersehen hat.
Im Kaufhaus muß man sich einfach nur umdrehen, das hilft schon.
Dreht man sich um, dann kann man sie sehen, die Nudelsuppe im Regal, die man so verzweifelt gesucht hat, die letzte Woche noch so wo ganz anders stand – ein bißchen höher, ein wenig tiefer, etwas mehr rechts oder links, im nächsten Gang.
Woanders nachschauen reicht in Glaubensfragen nicht.
Der blöde Unfall, das Hochwasser, der Krieg – alle Störungen des gewohnten Gangs bescheren neue Sichtweisen, reichen aber nicht, hindern uns oft genug sogar daran, Gott zu sehen, wie er ist.
Warum das passiert, was nicht passieren darf, verdunkelt unser Auge, und wir sehen ihn dann nicht, jenen Gott, der uns erkranken, verunfallen und pleite gehen läßt.
Das Leben selbst, so scheint es, verstellt uns den Blick, mauert das Fenster zu und schließt die Tür zu Gott.
Da hilft die beste Brille nix, wenn das Licht aus ist.
Es braucht da einen majestätischen Augenblick, wie ein Blitz, der durch die Wolken zuckt, in dem ich es erkennen kann.
Es braucht den majestätischen Augenblick, der mir geschenkt wird, eine winzige Sekunde nur, in der ich die Wahrheit sehen kann, die mir persönlich verborgen ist, aber trotzdem ist.
Eine klitzekleine Sekunde kann dann genügen, um zu begreifen, daß es viel, viel mehr gibt, als ich alleine mit und ohne Brille sehen kann.
Es braucht einen König-David-Moment, in dem ich ihn sehen oder wieder sehen kann, jenen Weg, der ohne Ende ist, den „Pfad des Lebens“, wie ihn ein anderer Übersetzer nennt.
Es braucht den Moment der Erkenntnis, in dem ich sehe, wie schlecht meine Augen geworden sind, so, daß ich Gott gar nicht mehr sehen kann.
Es braucht den Moment meiner Einsicht, daß
2. Das Ende der Anfang ist
„Du, Herr!“ sagt David. „Du bist, du zeigst, du schenkst….“
Der König sieht, daß nicht er selbst, sondern Gott handelt.
Nicht ich bin der Weg, Wahrheit und Leben – sondern „Du, Herr“.
Es ist eben kein psychologisches Selbsthilfeprogramm, bei dem ich mich selber über den Grabstein hinausschwingen kann.
Ich brauche einen, der mich wieder aufweckt, dann, wenn ich endgültig eingeschlafen bin und mir selber gar nicht helfen kann.
Ich brauche einen Auferstandenen, der mir beim Wiederaufstehen hilft, wenn ich zu alt geworden bin und zu schlecht sehen kann, wohin die Reise geht.
Der majestätische Augenblick ist der Moment des Glaubens. Er erschließt sich nicht dem rationalen Denken, eben weil ich so weit gar nicht sehen kann.
„Du, Herr“ sagt David. Nicht ich öffne das Fenster, sondern ein anderer.
Ich kann Gott nicht sehen. Gott muß sich mir offenbaren. Wenn ER das Fenster nicht öffnet, bleibt meine Seele im Dunkeln, gefangen in der menschlichen Dunkelheit, der Nacht meiner Seele, die -25 Dioptrien oder schlimmer sein kann.
„Du, Herr“ – wir brauchen ihn, jenen Augenarzt, der uns nicht beim Erblinden begleitet, sondern die Türe aufmacht, so, daß das Licht hineinströmen kann, wie die große Ahnung, daß es viel mehr gibt, als mein Kopf begreifen kann.
Wir brauchen Erleuchtung durch den Heiligen Geist, der uns bei der Wahrnehmung Gottes begleitet und öffnet für alles, was wir nicht begreifen können und was so schwer sichtbar ist.
Nur wenn Gott ihn uns schenkt, erfahren wir diesen Moment, in dem wir es sehen, daß es kein Ende gibt, sondern das Ende der Anfang ist. Das ist das wahre Programm, weil auch unser Leben zu wertvoll ist, um unter einem Grabstein zu vergammeln.
„Du, Herr“ schenkst uns
3. Das Auge, das mehr sieht
Denn Du wirst mich nicht dem Totenreich überlassen und mich nicht der Verwesung preisgeben. Ich gehöre ja zu dir. Du zeigst mir den Weg, der zum Leben führt, du beschenkst mich mit Freude, denn Du bist bei mir. Aus Deiner Hand empfange ich unendliches Glück.
„Ich gehöre zu Dir, Du bist bei mir“ – Wir sind in eine Auferstehungsgemeinschaft gerufen, eine tragende Verbindung, ein Gemeinschaftsprogramm, um Seite an Seite über den Grabstein zu steigen, hinauf auf die große Straße, den Pfad des Lebens, die nie endende Allee. Das ist das Masterprogramm.
„Sättigung mit Freude, Mildheit in Deiner Rechten immerdar.“ übersetzt Buber.
Und das hat was, etwas, was nur der glaubende Anblick Gottes sehen kann – heilende Wirkung
Mit dem neuen Auge kann ich viel besser sehen, dem Auge des Glaubens – zuerst mich und mein Leben, das so dunkel und verpfuscht aussieht, das so daneben scheint, aber nicht ist.
Mit dem Auge kann ich sehen, daß nicht ich, sondern Gottes Urteil wichtig ist, das Er über mich spricht, daß sein Blick der viel bessere ist auf mich und die Welt um mich herum.
Mit neuem Auge kann ich sehen, daß ER zu mir gehört und ich in ihm aufgehoben bin, still wie ein Kind.
Mit neuen Augen kann ich mich im Licht seiner Barmherzigkeit sehen, die mich gerecht spricht, so unglaublich das auch ist.
Im glaubenden Anblick Gottes kann es gelingen, mir selber zu verzeihen.
Darin entfaltet der auferstandene Christus seine Kraft. Wenn ich meine Augen nicht zukneife, sondern öffnen lasse, kann er in mir wirken.
Wer nur glaubt was er sieht, muß genau mit dem dann auch zufrieden sein.
Wer sich die Augen öffnen läßt, kann teilhaben an der Lebenserfahrung, die ohne Ende ist – mit offenen Augen allein.
Der König David gewinnt diese Erkenntnis Jahrhunderte bevor Christus in Erscheinung tritt.
Vor ihm taucht etwas auf, was man zu dieser Zeit gar nicht sehen kann: ein völlig neuer Lebensweg, heraus aus den Schatten der Vergangenheit, die in uns allen liegen, auf einen Weg, der uns frei davon macht.
Er sieht eine Straße, auf der man gehen kann, die wesentlich besser ausgebaut ist als jeder Radweg oder die Autobahn.
Es ist der Weg, der uns angeraten ist von Gott selbst, der dabei unser Berater sein will.
Wo es uns gelingt, in diesem Sinne sehen zu lernen, heißt es dann, wenn ich am Grabstein steh: „Volle Kraft voraus.“ Amen.