Predigt vom 08.12.2024
Jesaja 35, 3-10
Stärkt die kraftlosen Hände! Lasst die zitternden Knie wieder fest werden!
Sagt denen, die sich fürchten: „Faßt neuen Mut! Habt keine Angst mehr, denn euer Gott ist bei euch! Jetzt wird er euren Feinden alles Unrecht vergelten, das sie euch angetan haben. Gott selbst kommt, um euch zu helfen und euch zu befreien.“
Dann bekommen die Blinden ihr Augenlicht wieder, und die Tauben können hören.
Gelähmte springen wie ein Hirsch, und Stumme singen aus voller Kehle. In der Wüste brechen Quellen hervor, Bäche fließen durch die öde Steppe.
Teiche entstehen, wo vorher heißer Wüstensand war. In der dürren Landschaft sprudelt Wasser aus dem Boden. Wo heute noch Schakale lagern, wachsen dann Gras, Binsen und Schilf.
Eine Straße wird es dort geben, die man „Heilige Straße“ nennt. Kein unreiner Mensch wird sie betreten, sie ist nur für das Volk des Herrn bestimmt. Wer auf dieser Straße reist, kann sich nicht verirren, auch wenn er sich nicht auskennt.
Kein Löwe liegt auf der Lauer, auch andere Raubtiere gibt es dort nicht. Nur die erlösten Menschen betreten diese Straße.
Alle, die der Herr befreit hat, kehren jubelnd aus der Gefangenschaft zum Berg Zion zurück. Von Freude ergriffen, jubelnd vor Glück, kommen sie heim. Trauer und Sorge sind für immer vorbei.
Traumhafte Verwandlung
Wenn Schneeflocken tanzen, ganz heimlich, still und leise die Welt verzaubern, wenn morgens beim Aufstehen plötzlich alles weiß ist, dann wissen wir, daß sich über Nacht etwas verändert hat, etwas Entscheidendes.
Die zementgraue Straße ist jetzt schneeweiß.
Die kahlen Äste der Bäume haben einen weißen Hut auf, und selbst das alte Dach auf der Scheune des Nachbarn glänzt plötzlich samtig, feierlich, frisch beschneit.
So ganz in Weiß sieht sie vornehm aus, die Welt im Winter, die durch den Schnee nicht besser oder schlechter geworden ist, aber schon schöner anzuschauen – so ein bißchen Weiß tut doch der Seele gut in einer dunklen Jahreszeit.
Nur ein bisschen Schnee verwandelt die Welt.
1. Wenn Gott selber kommt
2. Wird aus Dunkelheit Licht
1. Wenn Gott selber kommt
Gott selbst kommt, um euch zu helfen und euch zu befreien. Blinde sehen, Taube hören, der Lahme springt wie ein Hirsch.
Es ist nicht nur ein bisschen gewagt, sondern völlig irrational, was der Prophet da raushaut. Von einer besseren Welt zu reden, ist gefährlich – immer dann zumindest, wenn die Wirklichkeit anders auszusehen scheint. Helmut Kohl wird heute noch dafür belächelt, als er von blühenden Landschaften sprach, Angela Merkel für „Wir schaffen das.“
Natürlich gibt es Zeitgenossen, die bekämpfen jede Art von Hoffnung wie den Winter mit Streusalz.
Manche wollen auch gar nicht hoffen.
Trotzdem steht sie ganz einsam da in eiskalter Nacht, die große Vision von Leben, von heiler Welt.
Wie eine Fieberfantasie wirkt sie, ähnlich einem Drogenrausch, die Idee von besseren Zeiten.
Gerade bei Krankheiten, die man nicht mehr operieren kann, muß es doch wie kranker Hohn wirken, redet man von einem Lahmen, der springt wie ein Reh.
Man muß erst mal an Krücken gegangen sein! Wo ist da die Grenze zur Spinnerei, zum religiösen Wahn?
Ist das nicht unseriös, von Heil zu reden, wo keiner mehr helfen kann?
Wäre es nicht viel besser, eine kleine Tablette zu schlucken, statt auf eine heile Welt zu warten?
Gott kommt! Was erwarten wir denn dann?
Die heile Welt, die in unsere unheile einbricht, ist etwas anderes, als ein Fantasieprodukt aus der rosa Traumfabrik.
Sie hat etwas Handfestes, auch wenn sie zunächst ein wenig wirklichkeitsfremd scheinen mag.
Gott kommt selbst – was das heißt, entscheidet sich zu allererst am Gottesbegriff.
Gott ist zu allererst keine Wunschfigur, Traum- oder Hausgott, auch kein Privatgott, an den jeder für sich glauben kann oder aber auch nicht, sondern mehr.
Gerade darin, daß Gott sieht, daß es Wiesen gibt, auf denen kein Gras mehr wachsen wird, Flüsse, die verseucht sind und bleiben, Krankheiten, die unheilbar sind und letztlich Tod, der gestorben werden muß – darin zeigt Gott Wirklichkeitsnähe.
Hoffnung ohne diesen Wirklichkeitsbezug wäre frommer Wahn oder billiger Poesiealbumtrost nach dem Motto „Alles wird gut.“
Heile Welt ist aber mehr. Gott ist mehr. Der große Augenblick, in dem Gott wiederkommt, wird als Wirklichkeit verstanden, auch wenn keiner von uns weiß, wann.
Der wirkliche Gott kennt wirkliches Heil.
Das ist ein Begriff, der über unserem Vorstellungsvermögen steht, weil es eine hundertprozentige Sache ist, fit in allen Dingen, fit nach allen Kriterien – einfach nur gut, voll funktionsfähig, rund.
In unserer Wirklichkeit ist immer irgendwo der Wurm drin, immer ein wenig Zerbrochenes, Unfertiges oder Halbes.
Vollkommenes Heil ist schwer vorstellbar.
Es geht um den Anfangszustand der Welt, den Neuzustand, in dem sie, frisch erschaffen, Gottes Hände verlassen hat und gut war, ohne Verlust von Vertrauen, Zeit und Geborgenheit.
Heile Welt ist die Welt, wie Gott sie gemacht hat und wieder werden lässt, wenn auf diesem Planet die Uhr abgelaufen ist.
Die Zukunft ist damit nichts anderes als eine Rückstellung in Gottes Ursprungsabsicht, in den Zustand, den er geschaffen hat, sozusagen ein großer Reset, ohne Ruinen und Friedhöfe, ohne Übervorteilung der anderen, ohne Verwüstungen und Missbrauch, ohne Sorgen, Angst und Krankheit, ohne Sklaverei und ohne Sehnsucht.
Gott kann nicht in einer unheilen Welt leben, weil seine Idee das Heil ist.
Er gibt diese unendliche Idee von der Welt nie auf. Er kann sie nicht aufgeben, weil Unheil nicht zukunftsfähig ist.
Es geht nicht ums Schlaraffenland, aber um eine stimmige, in sich funktionierende Lebensart mit durchaus paradiesischen Zügen.
Alles, was in unseren sichtbaren Welt um uns ist, geht tod-sicher zuende, und das hält die Frage in uns wach: Was kommt danach?
Gott ist da der Einzige, der diese Frage stimmig beantworten kann.
Bessere Zeiten haben schon viele versprochen, höhere Steuern wurden dann meistens geliefert.
Die Frage nach einer besseren Zukunft steht da ganz automatisch im Schatten der Vergangenheit und in der Enttäuschung des Augenblicks.
Heile Welt Gottes ist aber nicht nur so irgendein Trost auf irgendeinen ganz anderen Tag.
Heil versteht sich als gut aufgehoben sein in Gott selbst, ohne den lästigen Drang, sich daneben benehmen zu müssen oder so viel schlauer zu sein, als alle anderen um uns herum.
Heil ist ein Zustand ohne den Argwohn, ohne die schlimme Vermutung über mich selbst.
Heil ist mein Dasein dann, wenn ich glauben kann, auch dem anderen, der neben mir steht.
Heil umfasst mich tiefer, ganz – so, wie Gott die Erde umschließt, von allen Seiten, gestern, heute und morgen, von hinten und von vorne, von oben wie von unten.
Das beschränkt sich nicht auf irgendeinen unerreichbaren Raum in ferner Zukunft, sondern ist heute schon da.
Das, was für das Volk Israel noch auf Hoffen und Glauben aufgebaut ist, hat uns in Christus ja bereits erreicht.
Hoffnung auf Heil hat in Christus bereits an konkretes Gesicht. Traumhafte Verwandlung findet bereits statt.
In Christus kommt heile Zukunft in unheile Gegenwart.
In Christus heilt Gegenwart wie Vergangenheit zugleich, sie wird heile Welt – jetzt schon
Der Trost Gottes ist deshalb kein billiger Trost auf den St. Nimmerleinstag, sondern jetzt schon alltagstaugliches Werkzeug.
Deshalb ist die christliche Kirche auch kein Club von harmoniesüchtigen Träumern, sondern mehr.
Gott selbst kommt. Er ist in Christus schon da.
Deshalb
2. Wird aus Dunkelheit Licht
Macht die erschlafften Hände wieder stark und die wankenden Knie wieder fest. Die Wüste und das trockene Land sollen sich freuen, die Steppe soll jubeln und blühen.
Wir haben eine Hoffnung, die wirklich Hoffnung ist, einen begründeten Ausblick auf eine heile Welt.
Die Zukunft macht uns aber nicht verrückt, sie entzieht sich nicht dem normalen Dasein.
Sie führt sofort zur handfesten Veränderung des Daseins.
Je heiler ein Mensch in Christus wird, um so klarer tritt der dem Unheil der Welt entgegen.
Das ist kein schöner, sich gut anfühlender Prozeß, es ist eine Auseinandersetzung zwischen Licht und Dunkelheit.
Es gibt Theologen, die sprechen von einem Zwitterdasein – der Christ als Zwitter zwischen Licht und Dunkel, sich hindurchkämpfen müssend, sicher auch getragen werdend, aber in dem Fall aktiv, in dieser Bewegung auch müde werdend, erschlaffend, wankend oder „gehetzten Herzens“ – wie es Buber übersetzt.
Müde Hände fühlen sich nicht gut an, wankende Knie noch viel weniger. Wüstenwege, nicht Traumsandstrände, sind christlicher Lebensalltag.
Hoffnung auf heile Welt ereignet sich mitten in unheilem Alltag.
Sie entzieht uns nicht aus der Wirklichkeit, hilft aber bei deren Verwandlung.
So ist der Ruf an die Seite Gottes immer ein Ruf, sich selbst verwandelnd andere mit zu verwandeln, eine durchaus anstrengende und anspruchsvolle Lebensaufgabe.
Es gilt, die Hoffnung auf sprudelnde Quellen auf der trockenen Wüstenstraße auszuleben – nirgendwo anders.
Der Weg wird ein staubiger sein. Dunkel und Licht stehen im Verdrängungswettbewerb.
Solange wir uns für Licht entscheiden, greift die Dunkelheit nach uns.
Oft sind es genau die Situationen, die wir aus unserem Leben wegwünschen, die Gott mit seinem Licht erreichen will, Momente des Scheiterns, des Davonlaufenwollens, in denen Christusverwandlung geschieht. Dabei müde zu werden, ist keine Schande, sondern völlig normal.
Die Hoffnung auf heile Welt ist immer und untrennbar verbunden mit müden Händen und wankenden Knien. Hoffnung kann da nur Hoffnung sein, wo sie sich der Enttäuschung stellt.
Der Theologe Jetter sagt: „Es gilt, diese Hoffnung dem herrschenden Unheil mitten ins Gesicht zu singen.“
Das ist nicht nur anstrengend, sondern auch noch frech obendrein.
Gott will nicht auf uns verzichten. Heile Welt fängt in uns selber an, wo wir den Mut haben, gegen alles Wissen und alle Erfahrungen übelster Art anzuhoffen, auf den unendlichen Tag.
Christen sind dadurch nicht besser oder auch nur besser dran. Wir können aber unverschämter hoffen. Diese Hoffnung macht stark.
Advent ist die Zeit der Erwartung. Wir können und sollen also ruhig erwarten, daß Gott das alles kann, was der Prophet in seiner Vision gesehen hat. Es ist Gottes Traum von dieser Welt, der sich zu leben lohnt.
Gott ist in seinem Sohn bereits da. ER lässt es hinter dem Horizont noch weitergehen in Form von heiler Welt.
Das ist doch stark!
Der auferstandene Christus verwandelt jede Art von Finsternis in Licht. Auch mich. Das ist die traumhafteste Verwandlung, die es geben kann, schöner noch als weißer Schnee auf den Zweigen an Advent. Amen.