Br. Markus – Römer 13, 8-12
Es fühlt sich ganz anders an, nicht so, als ob es hell würde, eher umgekehrt, als ob die Tage kürzer und die Nächte länger, die Dunkelheit kälter und undurchdringlicher wären. Das ist ganz normal. Am Jahresende ist eher Jahresendstimmung – das ist nun mal so, immer schon so gewesen. Eine einzelne Kerze auf dem Adventskranz ändert da nichts, auch wenn sie noch so hell brennt. Auf der Titanic soll die Bordkapelle ja bis zum Schluß gespielt haben. Was also erwarten wir noch – jetzt, wo das Jahr schon fast vergangen ist? Viel kommt da nicht mehr.
Gestern haben wir unsere Marktsaison beendet, nächste Woche wird nur noch aufgeräumt – und dann? Dann war’s das.
Christlicher Glaube funktioniert anders rum, ist immer eine Morgenstimmung, nie ein Feierabendgefühl – leider nicht. Christus blendet nicht ab und aus, sondern zündet an. Es geht also nicht, wie in dem alten DDR-Witz: „Erich, mach’s Licht aus, Du bist der Letzte.“ sondern umgedreht. Die erste kleine Kerze, selbst wenn es ein billiges Teelicht aus dem Supermarkt ist, ist der Anfang. Die Betonung liegt auf „Anfang“ vom großen, starken, hellen, grellen Licht. Wir erwarten Sonne – hunderttausend Watt helles, warmes, strahlendes Licht, oder noch mehr, viel mehr sogar. Wir erwarten mehr, als es gibt.
1. Spannende Erwartung
Zwischen Frühstückskaffee und Feierabendbier liegt immer ein einziger, langer Tag, der manchmal ganz schnell gelebt ist – so, wie das letzte Jahr. Monate oder Tage – Zeit, die verweht, vorübergeht, als sei sie nicht wirklich gewesen, so schnell gelebt. Da steht man dann da und fragt sich, ob es das gewesen ist, was man erwartet, gewollt und geplant hat. Zeit ist deshalb Zeit, weil sie vergeht und man nicht weiß, ob man viel oder wenig davon hat, ob man es wahr haben will oder nicht. Jeder von uns hat nur 24 Stunden am Tag, keine Sekunde mehr und keine weniger. 20, 60 oder 80 Jahre für ein Leben – keiner weiß, wie viel, aber sich ist, daß sie vergeht, nicht die Zeit als solches, sondern meine Zeit, meine ureigene, ganz persönliche. Meine Zeit, die mir gegegeben ist, verstreicht. Der Spielraum, den ich persönlich gestalten kann, ist bemessen. Machen wir uns keine falschen Illusionen, den 250. Geburtstag erlebt keiner von uns so wirklich. Wenn ich in dieser Welt was bewegen will, sollte es deutlich davor fertig sein. Es ist meine Lebensaufgabe, zu erkennen, was es ist und wie ich es am besten gestalten kann. Man kann es ignorieren oder auch nicht. Zeit vergeht, mit oder ohne mich. Abends, 17, 18 oder 20 Uhr geht die Sonne unter – ob ich es akzeptiere oder nicht. Heute abend ist der Tag vorbei, egal, ob ich viel oder wenig getan habe. Fest steht nur eins: Am 31. Dezember ist 2019 vorbei. Spätestens dann kann ich in 2019 nichts mehr bewegen.
Wenn ich also bis zum Ruhestand brauche, um meine Ausbildung abzuschließen, ist es relativ unwahrscheinlich, daß ich meinen Beruf je ausüben kann. Es gibt ein christliches Zeitbewußtsein, das speziell dafür entwickelt wurde, die anvertrauten Pfunde zu entfalten. Meine Zeit vergeht. „Nütze den Tag“ sagt der alte Römer, und es schadet ja nicht, wenn man das mal an sich ranlässt. Heute mittag schlafe ich mich aus. Das schadet ja nicht. Wer sich aber nur ausschläft, ist eher ein Fall für den Kundendienst.
Christliches Bewusstsein ist ganz klar vom Uhrzeiger geprägt, ohne getrieben zu sein. Was ein erfülltes Leben ausmacht, entscheidet sich ganz sicher an dem, wie ich mit meiner Zeit umgegangen bin. Ich kann und darf an Gottes Seite entscheiden, ob ich mich schone oder nicht, ob ich mich herausfordere oder nicht. Es ist meine ureigenste Entscheidung. Lasse ich es sein oder packe ich’s an. Erwarte ich wenig oder eher noch weniger – Fragezeichen
Man kann auch viel mehr erwarten. Das hieße dann glauben. Diese Mehrerwartung ist es, die uns trägt – meint Paulus.
Sie ist es, die
2. Unser Leben spannend macht
Christus verändert mein Zeitgefühl von Grund auf. Wir sind nicht am Ende, auch dann nicht, wenn es sich so anfühlt, nicht einmal am Abend, am Jahres- oder Lebensende, auch wenn es sich so anfühlt. Auch wenn ich am Ende bin mit allem, was ich bin und kann, getan oder gelassen habe, steh ich erst am Anfang, am Anfang der Zeit, die nicht vergeht, und die so stark vom Licht geprägt ist, daß ich es gar nicht glauben kann. Mein ureigenstens Zeitgefühl braucht eine Christusreform, daß ich es glauben kann, daß vor mir eine Zukunft ist, die so ganz anders ist als die Nacht, die mich umgibt. Eine Zeit, die nicht vergeht, die darin anders ist als meine Zeit, die ich gestalten kann. Gerade wenn ein Jahr vorbei, ein Leben zu Ende geht, fängt diese Zeit erst an. Zeit ohne Zeitmaß, Blick ins Weite, in die Zukunft Gottes hinein, ist der prägende Blick für meine Zeit, die vergeht – nicht, weil wir Angst haben, zu kurz zu kommen, das Eigentliche zu verpassen oder benachteiligt zu werden, sondern weil wir mehr erwarten. Was kommt, ist nicht die Nacht, sondern der Tag.
Der Theologe Stählin sagt – ich zitiere sinngemäß: Die an Christus Glaubenden leben nicht mit den Gefühlen einer Abenddämmerung, sondern sind in die Situation des aufleuchtenden Morgens gestellt.
80 Jahre sind nur der Augenblick, in dem ich auf den Zug warte in eine neue Zeit. Leben heißt dann, diese Wartezeit sinnvoll nützen. Es macht einen großen Unterschied, wie ich meine Zeit begreife. Es geht deshalb bei meiner Lebensgestaltung nicht um eine ganz allgemeine, mehr oder weniger moralische Fehlerlosigkeit, sondern um ein Dasein aus einer anderen Erwartung. Liebt also eure Mitmenschen, denn ihr wisst doch, dass es Zeit ist, aus aller Gleichgültigkeit aufzuwachen. heißt es im Text
oder
So wird durch die Liebe das ganze Gesetz erfüllt. „Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst.“[B] oder Es geht darum, wach zu werden für die anderen. Gott ist wach für uns. Er achtet auf uns. Diese Aufmerksamkeit soll durch uns vervielfältigt werden. Überall, wo die Bibel von Liebe spricht, ist weniger gemeint, den anderen totzulächeln, als vielmehr wach zu werden für ihn. Gott ist immer wach für uns. Wer mehr erwartet, ist wach für andere. Das bedeutet nicht, daß man auf der eigenen Schleimspur ausrutscht, sondern viel mehr, daß man auch die Auseinandersetzung mit dem eingeht, der anders denkt. Es ist unsere spannende Lebensaufgabe, so lieben zu lernen. Das ist die größte Herausforderung, die es gibt, eben weil es so viel mehr ist, als ich selber bin und kann. Nichts ist so häufig missverstanden worden, wie das berühmte: „dem Nächsten das anzutun, was zu seinem Besten dient.“
Streicheln oder schlagen, Gefängnis oder nicht, mit oder ohne Besserungsanstalten – Fragezeichen
Beispiel: Meiner Meinung nach ist es zu meinem Besten, jeden Abend ein, zwei Fläschchen Bier zu trinken. Es gibt aber Leute, die sehen das anders. Was also ist zu meinem Besten? Ein, zwei Fläschchen Bier oder ein Liter Müsli, schlimmer noch, Braunhirse? So kompliziert können die existenziellen Fragen der Lebensgestaltung sein. Ist es Christenpflicht, den Kindern Fernsehen zu verbieten oder nicht? – War 1970 eine wichtige Frage. Ist es eine Sünde, Eisenbahn zu fahren – war rund 1850 eine wichtige Frage (kein Witz!) Ist eine künstliche Befruchtung richtig – ist 2019 eine wichtige Frage. Wie erkenne ich, was das Beste für den oder die anderen ist? Das ist die wichtigste Frage durch alle Zeiten, und wer ehrlich ist, muß zugeben, daß es eine hohe Kunst ist, den anderen zu lieben, genau genommen eine Überforderung.
Gott fordert uns damit heraus. Gott liebt mich und fordert mich heraus, genau so zu lieben, wie er es tut. Er fordert mich heraus, die Dunkelheit der Enttäuschungen zu durchbrechen und eine kleine Kerze der Sympathie zu entzünden für den schwierigen Nächsten. Gott zündet in mir ein Licht an, weil er will, daß ich noch viele tausend Lichter anzünde in dieser Stadt, in dieser grauen Novemberwelt, die so dunkel und so kalt geworden ist, daß sie fast ungemütlich scheint. Gott hat mich wach gemacht, ein Lichtanzünder zu werden und zu sein, heute und jetzt, und in diesem Haus und in dieser Stadt.
Gerade die dicken Kotzbrocken, die fiesen Tyrannen, anstrengenden Gesellen und Gesellinnen sind angesagt – nicht die Katze in der Gärtnerei, die kann jeder streicheln. Die halsstarrigen Wiederholungstäter, angstmachen beratungsresistenten Ausgegrenzten sind angesagt. Man muß es sich nicht künstlich schwer machen, aber es ist ganz klar eine große Herausforderung. Es geht nicht um die lästige Pflicht, möglichst zu allen nett zu sein, sondern um ernsthafte Auseinandersetzung mit dem anderen. Vor uns liegt der anbrechende Tag. Es lohnt sich nicht, die Zeit mit kleinkarierten Streitigkeiten und Rechthabereiene zu vergeuden, wohl aber, ernsthaft mit dem anderen zu streiten. Vor uns liegt Ewigkeit. Es lohnt sich, meine befristete Zeit dafür zu nutzen, die Kunst zu lieben zu lernen und bereit dafür zu sein, ein ewiger Student zu bleiben.
Der Theologe Voigt sagt: „Hier ist alles, was man lernen kann, immer noch zu wenig. Rechtspflichten können abgegolten werden, aber die Liebespflicht ist unendlich, also niemals abzutragen. Hier hört alles Rechnen auf, aber auch alle Beruhigung, jetzt sei es geschafft. Wer liebt, ist in ständiger Bewegung im Dasein für andere.“
Heute ist der 1. Advent. Wir zünden ein Licht an. Das ist zugegebenermaßen noch relativ wenig Licht. Wir zünden es an, weil wir erwarten, daß es mehr wird. „Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier“ – Wenn es der merkwürdige Nachbar auch macht, sind es schon doppelt so viele Kerzen, und wenn es alle machen, wird es ein Lichtermeer. Gott erwartet noch mehr. Eigentlich ist ja auch immer Advent.
Zünden wir also ruhig noch mehr Lichter an – auch nach Weihnachten, dann, wenn es keiner mehr von uns erwartet, einfach deshalb, weil wir mehr erwarten. Amen.