Predigt vom 31.12.2023
So alt wie die Menschheit ist wohl die Frage, wie man das Leben am besten lebt.
Da fängt das Problem schon an. 23 vor Christus formuliert der römische Dichter Horaz sein „Nutze den Tag“.„Halt“ sagen einige, es muß „Genieße den Tag“ heißen. Man könnte jetzt als Kompromiß „Nutz-nieße den Tag“ setzen. Ob man damit das Geheimnis eines gelingenden Lebens getroffen hat, bleibt ein Rätsel.
Unser heutiger Predigttext stammt aus einer Zeit weit vor Christus, also auch weit vor Horaz, kommt aber zu einem ganz ähnlichen Ergebnis.
- Mit und ohne tick-tack
- Ohne den erhofften Lohn
- Ohne zu verstehen
Genieße den Tag
1. Mit und ohne tick-tack
„Alles hat seine Zeit, hat seine Zeit, hat seine Zeit …“
Hört sich irgendwie an wie eine alte Schallplatte, die einen Sprung hat.
…hat seine Zeit, hat seine Zeit, hat seine Zeit…
Es sind zweimal sieben Gegenüberstellungen des Predigers. Sieben ist die Zahl für Vollständigkeit – gedoppelt deshalb, um der Sache Nachdruck zu verleihen.
Gemeint ist also alles, was im Leben passiert.
Solange wir uns auf Weihnachten freuen, ist es schön – und schon ist es vorbei.
Solange wir Angst vor der Prüfung haben, scheint es unendlich – und schon ist es vorbei.
Man muß nicht als großer Philosoph geboren sein, um zu verstehen, dass Tage und Jahre zuende gehen.
„O Augenblick, wie bist Du schön, verweile“ oder
„Endlich bin ich hier raus!“
Je nach dem, ob man im Stau oder unter Palmen sitzt, wünscht man, dass die Zeit vergeht oder still steht. Tick-tack – es ist Wesen der Zeit, dass sie vergeht. Wir stehen nicht still, jede Sekunde, jeder Atemzug ist nur ein Schritt weiter auf der Zeitachse. Leben heißt, dem Wechsel ausgesetzt sein. Das ist kein antiquiertes Weltbild, sondern Tatsache.
In der Ukraine tobt derzeit der Krieg, während wir noch Frieden haben.
Es ist dasselbe Jahr 2023, und doch so voller Unterschied. Es wird weder alles gut, noch alles schlecht werden. Wir leben im Spannungsfeld der Zeit, im tick-tack zwischen gut und böse, schön und weniger schön. Ideologien, die versuchen, dieses Spannungsfeld auszublenden oder einzuebnen, decken sich zumindest mit meiner Wirklichkeitserfahrung nicht.
Das Spannungsfeld ist da. Man muss einfach nur Tagesschau sehen, um zu verstehen, dass es durchaus Krieg und Frieden gibt in dieser Welt. Es bringt nichts, das Leben in nur eine einzige Richtung zu denken. Der Rhythmus der Uhr ist unser Lebensrhythmus, bestimmt durch den Tod, an dem keiner was ändern kann. Es geht weder stetig bergauf, noch nur bergab, auch wenn mal das eine oder stellenweise das andere überwiegt.
Alles hat seine Zeit und scheint
2. Ohne den erhofften Lohn
9 Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.
Genau dieses Lebensgefühl beschleicht mich jeden Mittag, wenn ich den Markt wieder einpacke. Jeder freischaffende Unternehmer kennt das Problem. Es bleibt einfach nichts übrig.
Manch einer kauft sich aus dieser Verzweiflung heraus eine millionenschwere Luxusjacht, um sie im Hafen von Nizza abzustellen und sich darin selber leid zu tun.
Aber auch ohne die eigene Sentimentalität muß man zugeben, dass tatsächlich wenig bleibt, wenn der Sargdecken zugeklappt wird.
Das ist real das Problem, das man hat, wenn die eigene Zeit ausgetickt ist und alles, was man geglaubt und geschaffen hat, zu zerrinnen scheint wie der Sand in der Sanduhr.
Es ist dann keine bloße Melancholie, wenn man Sehnsucht nach etwas hat, was diese schwarze Linie des Todes überschreiten kann, etwas, was nicht gefesselt ist an dieses stetige Auf und Ab und dieses vergängliche Tick-tack.
So wie das Auf- und Ab ist doch in jedem von uns Sehnsucht wach, Sehnsucht nach Leben, Sehnsucht nach Zukunft, Sehnsucht nach mehr – Sehnsucht nach einer Uhr, die nicht mehr „tick-tack“ macht.
Die Uhr ohne tick-tack ist ja inzwischen erfunden, sie läuft mit Batterie. Die Zeit vergeht aber trotzdem.
So bringt manche Erneuerung tatsächlich auch Verbesserung, und so wird die Zukunft tatsächlich besser als es scheint, wenigstens manchmal. Die Sehnsucht bleibt, die Sehnsucht nach einem bleibenden Lohn, nach einem echten Gewinn.
Die Zeit des heutigen Predigttextes ist eine Zeit weit vor Christus, eine Zeit vor Erlösung und eine Zeit vor der Auferstehung. Ohne diesen Ausblick, ohne diesen Horizont kann man den Prediger wohl voll und ganz verstehen. Seine Melancholie und seine Sehnsucht schaffen aber nicht die neue Perspektive. Seine Zeit, sein Leben ist noch ein Leben
3. Ohne zu verstehen
Der Theologe Voigt sagt: „Wer auf einen Gott aus ist, dessen Handeln in der Welt durchsichtig, begreifbar, nachrechenbar ist, darf nicht die Bibel fragen. Sie verkündigt uns den Gott, dem wir nicht auf die Spur kommen, den wir nur respektieren, vor dem wir uns nur beugen können im Wissen um seine Unerreichbarkeit.“
Es ist und bleibt nicht zu verstehen, warum wir hier „Stille Nacht“ singen können und 2.000 km weiter die Bomben in die Häuser krachen. Die Liste ließe sich unendlich fortsetzen.
Einen Grund zu weinen gibt es jeden Tag, jede Stunde, jeden Augenblick. Es gibt ihn aber genauso, den Grund, sich zu freuen, zu lachen, zu genießen und guter Dinge zu sein.
„ Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.“
Es darf also sein, dass man sich fragt, ob man all die Tage auch genug getrunken und gegessen hat – eben das, was zu genießen war.
Es kann eben nicht nur die Frage sein, ob man genug gearbeitet, gebetet, gelitten und geglaubt hat, sondern ob das Genießen der Gaben Gottes im Lebensplan enthalten war. Der Prediger Kohelet will hier nicht eine religiöse Spaßgesellschaft animieren oder eine Ballermann- Mentalität anpreisen. Es geht um eine tiefgreifende Freude, nicht anstatt des Leides, sondern als Gegenpol des Leides.
Hier wird eben nicht die Volksbelustigung der Nation gepriesen, sondern dankbarer Genuß:
die Feste bewusst als Fest zu feiern, gerade als Gegensatz zu dem, was überhaupt nicht festlich ist inmitten aller Dunkelheit.
das Leben feierlich zu gestalten, eben weil wir vieles nicht verstehen, was überhaupt nicht feierlich ist.
Es geht um ein „trotzdem“.
In Christus erweitert sich die Zeit zur Ewigkeit, zu einer Zeit, in der die Stunden nicht vergehen. In diesem Augenblick erweitert sich die Welt und lässt uns Dinge sehen, die in unserer Zeit unvorstellbar scheinen.
In Christus löst sich die Grenze auf, die Grenze, die uns halten will im Heute, Hier und Jetzt.
In Christus finden wir den Sinn und das, was niemand eigentlich begreifen kann.
Voigt: „In Christus sind die verhängnisvollen Zirkelbewegungen, die Kohelet sieht, aufgebogen zur zukunftsweisenden Geraden des Heils.“
Wir sind dazu eingeladen, auf dieser Geraden zu leben, den Tag ganz genau in diesem Sinne zu nutzen und zu genießen, im stetigen Auf und Ab, bereichert um diese Gerade des Heils, die einen Ausblick schafft, Sinn gibt.
Verzeiht mir also heute, wenn ich zum Abschluß mal statt „Amen“ einfach „Carpe diem“ sag.