1. Korinther 7, 29 – 31
„Auch das ist Kunst, ist Gottes Gabe,
aus ein paar sonnenhellen Tagen,
so viel Licht ins Herz zu tragen,
dass wenn der Sommer längst verweht,
das Leuchten immer noch besteht.“
Mit warmen Worten malte Goethe die Kunst der Distanz. Er suchte Bleibendes, wo bereits herbstliche Umstände, Ungemütliches anbrechen ließen.
Ähnlich entwickelt Paulus ein Leitbild für Christen.
1. Glänzendes Auslaufmodell
„Denn diese Welt mit allem, was wir haben, wird bald vergehen.“
Lebensraum als Auslaufmodell. Was jetzt ist, wird nie so bleiben. Diese Welt atmet, sie gibt und nimmt, sie steht unter dem Aufblühen und Verwelken. Das was unter dem Qualitätssiegel „Und alles war sehr gut“ steht, ist nur für den Übergang. Dieses unvergleichliche Meisterwerk an Schönheit, das überall besungen und staunend erforscht wird, in dem Menschen glücklich sind und größte Erfüllung erfahren und in dem der Schöpfer auf faszinierende Weise seine Spuren hinterlässt, ist nicht für die Ewigkeit bestimmt. Welt – das ist erfüllendes Reich Gottes im Übergang, im Davor, vor dem Letzten.
Wir spüren die Auflösung täglich im eigenen Leben, da brauchen wir weder Zeitung noch Nachrichten. Wir erleben die Spannung zwischen bewundernswerten menschlichen Höchstleitungen und Erfolgen und dem menschen verachtenden Wahnsinn, der Existenzen eiskalt vernichtet. Je nach Blickrichtung sehen wir Genesis in atemberaubender Schönheit und Dürregebiete mit Leichenbergen. In diesen Gegensätzen bleibt die Welt dennoch der einzige Raum, in dem jetzt Menschen Gott begegnen, im dem Gottesoffenbarung stattfindet. Sie ist der Ort, an dem sich Erlösung und Auferstehung ereignet. Sie ist der Spielplatz Gottes, auf dem mitten im Elend Glaube heranwachsen kann.
Es wäre dumm, die Welt wegen ihrer Scheiterhaufen zu verachten und stattdessen in zurückgezogener, heiliger Abgeschiedenheit zu leben. Es gibt auf dieser Erde auch für die Frommen keine heile Welt. Wer versucht, sein eigenes vergängliches und sündhaftes Dasein zu verdrängen, nimmt sich selbst das Leben. Bei allem Lebensmut, schaffen wir den Tod nicht aus der Welt. Um sich der Welt weder naiv offen und unkritisch hinzugeben noch sich wegen der in ihr existierenden Ungerechtigkeit aus ihr zurückzuziehen, lebt der Christ aus anderen Umständen.
2. Gespannt ausgerichtet
„Denn eins steht fest, Brüder und Schwestern: Wir haben nicht mehr viel Zeit. … Verliert euch nicht an diese Welt, auch wenn ihr in ihr lebt.“
Paulus zieht das Tempo an und macht uns zu Aussteigern besonderer Art. Wie in einer Mitarbeiterschulung setzt er zwei Pole: Den Ist-Zustand und den Wird-Sein-Zustand.
Der Ist-Zustand ist das Jetzt mit seinen Höhen und Tiefen, das was uns bestimmt und den Anspruch verbreitet, die einzige gültige Wahrheit zu sein. Der Ist-Zustand schreit so laut, dass er sich als unveränderliche, einzige Realität verkauft. Es ist wie es ist, und daran wird sich nichts ändern. Er ist der Weltmarktführer, der einen wie Coca-Cola und MC Donalds über alle Kontinente begleitet.
Der Wird-Sein-Zustand setzt dem Ist-Zustand eine Gegenrealität. Er ist der Aussteiger aus gewohnten, festgefahrenen, und unüberwindbaren Systemen. Der Aussteiger sieht zu seiner bestehenden Welt, eine ganz andere Welt und hält es für möglich diese zu erreichen. Wie ein Auswanderer, der von einem abenteuerlichen Leben in der Wildnis träumt, um den stupiden Formen einer funktionierenden Gesellschaft zu entfliehen. Wer um einen Wird-Sein-Zustand weiß, um das was einmal erreicht werden wird, fängt an, das was ist zu hinterfragen und zu durchbrechen. Er öffnet sich für eine Entwicklung, die sich einer neuen Wahrheit stellt. Das ausgerichtet sein, auf das was möglich ist, schafft die Distanz zu allem was mich jetzt festhält und bestimmt. Dort wo ein Aussteiger das Unerträgliche des Vergänglichen flüchtet, geschieht für Glaubende ein ganz anderes Phänomen.
Christus schafft den Abstand vom Vergänglichen. Nicht in der Flucht von…, sondern in der Beziehung zu Christus beginnt das Abenteuer. Auferstehung durchkreuzt die irdischen Gesetze. Mit Christus ist nichts wie es ist, da muss selbst der Tod ins Gras beißen. Das scheinbar Unabänderliche, die ganzen erstarrten Formen verfließen wie Wachs. An Christus scheiden sich die Geister. Er durchbricht den Fluch der Apfelgeschichte, der wir unser ganzes Elend all unsere Unruhe verdanken, und versetzt uns an den Anfang von Schöpfung.
Im Vergehen wirkt die Vergebung. Der mit Misstrauen verseuchte Boden wird wieder grün. In Verzweiflung keimt neue Hoffnung. In alles Vergängliches kommt etwas Bleibendes.
Mit Christus ticken die Uhren anders, ab dem Zeitpunkt, wenn Christus kommt. Egal ob noch Jahrhunderte bis zum Ende der Welt bevorstehen oder ein absehbarer Zeitraum, auf jeden Fall gehen wir auf das persönliche Ende zu. Dadurch bekommt die knappe Zeit einen besonderen Wert, weil das Zeitliche über das Ewige entscheidet.
Der Theologe Gottfried Voigt sagt: „Glaube kann man nicht beruhigt der Zukunft überlassen. Glaube rechnet jeden Augenblick mit dem kommenden Christus.“
Jeder Augenblick wird zu einem wertvollen Häufchen Gold, weil Christus kommt. Dieser Glaube verändert die Welt. Er verändert meine und deine Welt, er verändert die ganze Welt. Christen sind keine Träumer oder gespaltene Persönlichkeiten, sondern sie lassen in den Gegebenheiten, die jetzt so sind wie sie sind, durch den kommenden Christus etwas von dieser anderen Welt anbrechen. Es ist ein Leben, das nicht von den Höhen und Tiefen des Augenblicks gefangen ist, sondern da ist mehr möglich als alle Missstände zulassen. In dieser gespannten Ausrichtung wächst ein entspannter Umgang mit einer Welt, die dem Untergang geweiht ist.
3. Lass fahren dahin
Deshalb soll von nun an für die Verheirateten ihr Partner nicht das Wichtigste im Leben sein. Wer weint, soll sich von seiner Trauer nicht gefangen nehmen lassen, und wer sich freut, lasse sich dadurch nicht vom Wesentlichen abbringen. Wenn ihr etwas kauft, betrachtet es so, als könntet ihr es nicht behalten.
„Distanz“ heißt das Zauberwort. Distanz heißt: Mittendrin, aber im Geist von Außen. Die Distanz, ist kein Ausstieg aus der Welt, sondern der innere Abstand zu den Gesetzen dieser Welt. Christus macht uns frei von der Welt, damit wir frei sein können für die Welt.
Es geht nicht um Enthaltsamkeit oder Ehe, sondern dass etwas von dem umfassenden Leben, in die menschlichen Beziehungen kommt. Menschliches Glück kann nie unabhängig von Gottesbeziehung gesehen werden. Alles lebt in erster Linie aus dem Glück mit Gott. Wir schöpfen alle menschlichen Begegnungen voll aus und freuen uns mit den Lachenden, zittern mit den Weinenden und empfinden Schmerz mit den Trauernden und tragen dennoch eine Freiheit in uns, die nicht von irdischen Grenzen bestimmt ist. Wir können Besitz genießen, als hätten wir ihn nicht. Es kann das Haus abbrennen, aber das Herz wird dabei nicht verbrannt, weil es seine Hoffnung nicht aus der Asche nährt.
Das ist das Starke am Leben des Glaubens, dass der Mensch dazu in der Lage ist, voll und ganz in einem irdischen Umfeld zu leben und gleichzeitig frei zu sein von dem, was an das Vergehende bindet. Mit diesem Leben in anderen Umständen wird der Mensch zur widerstandsfähigen Säule inmitten einer vergänglichen, unübersichtlichen Zeit. Er wird zum Leuchtfeuer, wo die Zukunftsaussichten ohne erkennbare Perspektiven sind. Die offenen Fragen dieser Welt verlieren den verzweifelten Charakter des Unabänderlichen.
Lass fahren dahin – das ist eine heitere Gelassenheit, die weder mit Ignoranz noch mit Weltfremdheit oder billiger Jenseitsvertröstung zu tun hat, sondern in einer tiefen Geborgenheit in dem Ewigen gründet. Es ist keine Flucht vor der Welt, sondern eine viel stärkere Tüchtigmachung für die Verantwortung in der Welt. Die Standhaftigkeit wird wesentlich größer, weil der Kampf mit dem Vergänglichen nicht mehr so wehtut. Das Bedauern gilt eher denjenigen, die im Verlust untröstlich sind.
Bei allen täglichen Auseinandersetzungen – seien es unlösbare mitmenschliche Spannungen, Zukunftssorgen, wirtschaftliche Krisen oder Schmerzen, die kein Ende nehmen – entscheidet die Frage, ob wir im Ist des vergänglichen oder Wird-Sein des bleibenden leben. Darin liegt Erträglichkeit oder Verzweiflung, Freiheit oder begrenzt sein. Wer auf die Welt sieht, wer auf die menschlichen Schicksale sieht, kann keine Hoffnung haben; wer auf Christus sieht, braucht sich von menschlichen Gebrochenheiten nicht erschrecken lassen.
Es ist gut, ganz in diesen anderen Umständen zu leben. Stellen wir uns jeden Morgen neu in diesen unendlichen Raum der Gegenwart Gottes, damit dieses Bild in uns solche Kraft entwickelt, dass es für uns zum Lebensraum dieses Tages wird. Lassen wir uns von Christus aus der Spirale des getrieben seins befreien. Nutzen wir jeden Augenblick, allem Zerfall etwas Lebendiges zu schenken. Glauben wir, dass wenn der Sommer längst verweht, das Leuchten immer noch besteht.